Zwei Welten (April ’14)

Zwei Welten – ein Gedicht von Christina Rehr

Ich lebe in zwei Welten – zwei Welten, in denen niemals dieselben Regeln gelten. Denn während die eine meinen Träumen entspringt und jeder Gedanke neues Glück aussät, ist die andere Welt die pure Realität.

Und oft kann ich nicht sehen, in welcher Welt ich steh, denn ich dreh mich um meine Gedanken, die wie kleine Ranken an mir empor klettern – und es zerreißt mich innerlich, wenn ich erkenne, dass auf dem Ortsschild vor mir mal wieder Traumwelt steht und sich die Welt nur in meinen Gedanken dreht.

Ich lebe in zwei Welten. In der Traumwelt, da lebt die Perfektion, die dazu führt, dass mir alles gelingt, und ich beschwingt und munter über meinen Zweifeln steh. In dieser Welt gibt es keine Nervosität – dort gibt es keine Zweifel vor dem Bühnenauftritt und der Schritt geht nur vorwärts und niemals zurück. Hier gelingt alles ohne Zögern und Fragen. Und da alles gelingt, gibt es nie was zu klagen. Für Ordnung und Fleiß bekomme ich einen Orden, und meine Beine sind eindeutig länger geworden.

Ich lebe in zwei Welten. In der Realität, da sind die Schritte meist schwerer, der Teller meist voller und das Glas meistens leerer. Das Sofa ruft lauter, und der Mut ist meist leiser, die Gehirnzellen träger und die Zweifel meist heiser. Hier lässt die Bequemlichkeit sich gern nieder, und Grübeleien drehen wieder und wieder ihre Runde und halten mich fest Stunde um Stunde.

Ich lebe in zwei Welten, und es existiert so manches in der realen Welt, das mein Herz erfüllt und meinen Kopf oben hält. Es sind Menschen, die meine Sehnsüchte kennen und mir neue Schleichwege zwischen den Welten nennen. Es sind Menschen, die mit vielen kleinen Zeitstücken meinen Stuhl immer wieder in die Sonne rücken und mit Glückskleeblättern meine Wohnung schmücken. Sie backen aus Kuchenteig kleine Herzen und versiegeln mit Engelsgeduld sämtliche Schmerzen. Sie reichen mir Lebensmut und reine Gedanken und bauen mir Landschaften mit Zuckergussschranken. Sie öffnen mir Türen und halten die Welt für mich an und geben mir das, was eine Traumwelt nicht kann.

Da sind Glücksmomente und Situationen, für die sich alle realen Minuten lohnen. Da ist das Tanzen, das alle Grenzen sprengt, das die Realität mit den Träumen vermengt. Da passiert etwas, dass mein Leben prägt, und ich frage mich, wie viel Glück mein Herz wohl erträgt. Es gibt keine Worte, um den Zustand zu beschreiben, es ist, als würde Glückseligkeit bleiben, wo auch immer ich hingeh, wo auch immer ich steh, während ich mich im Karussell des Lebensglücks dreh.

Ich lebe in zwei Welten und das, was in meiner Traumwelt passiert, ist das, was mich wirklich interessiert. Das was tief in meinem Innern steckt – ist alles, was Glückseligkeit weckt. In der Traumwelt, da gibt es kein müsste und sollte, kein würde, kein wenn, kein hätte und wollte. Denn ich geb den Ton an, wenn ich in der Traumwelt steh, und ich mal mir die Wege, auf denen ich geh. Ich skizziere Ortsschilder und Wanderwegzeichen, ich entferne jegliche Zäune und Weichen, ich bin umgeben von Schmetterlingsgeflatter und Bienengesumme und Hufgeklapper. Ich laufe über den Regenbogen, und so manches Mal bin ich hier schon geflogen.

Ich lebe in zwei Welten. Meine Traumwelt, die existiert nur für mich alleine, wie Notizen und Anmerkungen schreib ich sie ins Reine. Es sind Hoffnungen, Wünsche und Gedanken, die als Buchstaben zu den Schreiblinien wanken, die sich wie Ausrufezeichen ans Satzende setzen und dort Fragezeichen vom Platze verhetzen, die wie Anführungsstiche Zitate verlangen, während Gedankenstriche vor den Pausen bangen. Es sind Kommata, die noch mehr Inhalt gestatten und Fettgedrucktes auf den Unterstrichmatten. Es sind Worte und Sätze, die ganze Zeilen beschriften und Gedankenspiele, die über Seiten driften. Die Zeilen sind niemals zu Ende geschrieben und manchmal sind kleine Lücken geblieben. Ein Radiergummi hat Spuren hinterlassen, und es gibt Klammern, die Geschriebenes umfassen. Es gibt Seiten, die wurden zuerst geschrieben und dann in die Hölle des Papiermülls getrieben. Es gibt Denkblockaden und Kaffeeflecken, Krakeleien und geknickte Ecken. Doch alle Zeichen, die diese Seiten berühren, können mich in meine Traumwelt führen. Sie lassen neue Ideen reifen, während sie noch nicht Gedachtes über die Seiten schleifen. Sie sind eine Tür zwischen zwei Welten, in denen manchmal doch dieselben Regeln gelten, die getrennt und vereint existieren und ohne die andere ihre Wirkung verlieren.

Und so gilt es die Welten zu vereinen, um zu tun und zu leben statt zu wünschen und meinen. Denn die Traumwelt allein ist nicht ideal, denn ohne Reales wird die Traumwelt egal. Und ohne das Fallen in der realen Welt, bedeutet es nichts, wenn uns jemand hält.

Und so lebe ich in der einen, in der Gehirnzellen denken und Tränendrüsen weinen und die andere – die schenkt mir Inspirationen, die dann tief in meinen Herzen wohnen.

Ich lebe in zwei Welten.

(c) Christina Rehr; April 2014

Zwei Welten – Christina Rehr (pdf)

Du möchtest mehr über das Gedicht wissen? Dann hör dir doch die dazugehörige Podcastfolge Nr. 8 in meinem Podcast „Glücksmomente“ an (einfach hier klicken).